Aktuelle Lese-Empfehlungen der Bibliotheksmitarbeiterinnen

Samantha Harvey. Umlaufbahnen

Ein großartiger Roman, ein kühnes Unterfangen und eine Liebeserklärung an unseren Planeten. Die Sprache ist von beeindruckender Klarheit und Schönheit, die ProtagonistInnen sind sehr berührend, jede/r auf ganz eigene und unvergessliche Weise. Ein Leseerlebnis der herausfordernden Art.

Roisin Maguire. Mitternachtsschwimmer

Ein irisches Dorf während der Coronapandemie. Während man noch rätselt, ob man den ProtagonistInnen so etwas wie Sympathie entgegenbringen kann – hat man sie bereits liebgewonnen. Die Lektüre erzeugt so etwas wie ein vorsichtiges Gespannt-sein und eine spröde Wärme. Eventuell ist das Ende ein wenig zu … gut. Ein sehr lesenswerter Roman.

Strömquist, Liv: Der Ursprung der Welt

Diese Graphic Novel kann man gar nicht ohne gelegentliches Schmunzeln oder Auflachen lesen. Sie ist nicht nur komisch, sondern auch durchaus informativ. Als Protagonistin fungiert „das weibliche Geschlechtsorgan“, das sich im Laufe der menschlichen Geschichte so einiges an Mythen aufgehalst hat – nicht immer zum Vorteil derer, die damit gesegnet sind. Durch die Einteilung in kürzere Kapitel und die vielen Bilder ideal für Nachttisch oder den Bücherhalter im WC…

Zykunov, Alexandra: „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!“. 25 Bullshitsätze und wie wir sie endlich zerlegen

Der Titelgebende und viele andere „Bullshitsätze“ mischen sich in unseren Alltag, bis sie wahr werden. Dabei – das zeigt Alexandra Zykunov mit einer guten Portion schwarzem Humor und anhand von gut recherchierten Fakten, sind diese Sätze nicht nur falsch, sondern fördern patriarchale Muster. Achtung: Die Lektüre kann wütend machen!

Marlene Streeruwitz. Handbuch für die Liebe

Wie kann in Zeiten des Krieges an die Rettung der Welt gedacht werden? Die eindringliche Sprache, die Marlene Streeruwitz für die Liebe findet – eine Liebe, die eigentlich ein Grundrecht jedes Menschen von Geburt an ist, fordert uns, die Liebe neu zu überdenken.

Anne Tyler. Drei Tage im Juni

Ein heiterer Roman mit Tiefgang. Gut zu lesen. Zaubert ein Lächeln ins Gesicht.

Ulli Lust. Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte

Die meisten Menschenbilder, die uns von Eiszeitmenschen selbst hinterlassen wurden, zeigen Frauen. Was waren das für Gesellschaften, die sich und ihr Geschlecht so zentral und ohne Scham darstellten? Ein Sachcomic über die Anfänge der Kunst und die Bedeutung der Empathie für das Überleben unserer Spezies: Rund um die archaisch-weiblichen Figurinen entfaltet sich eine vergessene Welt, in der die Heldenreise Gruppensache war, die nur gemeinsam bestanden werden konnte, von Frauen, Männern, Kindern oder auch nichtbinären Menschen.

Nina Bawden, Ein Flamingo im Regen

(1997 auf Deutsch, 1954 in Englisch). Was es mit dem „Flamingo im Regen“ auf sich hat, erfährt die Leserin – so wie der Ich-Erzähler  – erst recht spät. Ebenso entwickelt sich vorerst leise und langsam eine untergründig anwachsende Beunruhigung und Anspannung: Will wird aus seinem etwas eintönigen Alltag gerissen durch den Anruf einer entsetzten Freundin, ihr beizustehen, denn soeben habe ihr ein junges Mädchen namens Rose, die einfach vorbeigekommen sei, mitgeteilt, sie sei von ihrem Mann, einem Schuldirektor, schwanger geworden … Dicht, aber vordergründig ruhig, erzählt mit genauem, melancholischem Blick. Ein Genuss, diesen Krimi aus den 50er Jahren zu entdecken.

Molly McCarthy: Kleine Fliegen der Gewissheit

 Eine Kindheit im 19. Jahrhundert (Aviva 2024; erstmals 1924 in England).„Doch wie schön ist es nicht manchmal, die Erinnerungskiste aufzuschließen…“. Eintauchen in den Bloomsburykreis um Virginia Woolf, auf den Spuren von ihrer Kusine und langjährigen Freundin  Molly McCarthy: Das ermöglicht die liebevoll gestaltete Ausgabe der erstmals auf Deutsch übersetzten Kindheits-Erinnerungen, umrahmt von einer kundigen Einführung des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwarz und abgerundet mit einem kleinen – Mollys Text würdigenden – Essay von Virginia Woolf

Lese-Empfehlungen vom Herbst 2024

Wahl, Caroline. Windstärke 17.
Berührende und eindrückliche Schwesternliebe unter den Bedingungen, die eine alkoholkranke Mutter vorgibt; Tilda und Ida, traurig und wütend und von widerständiger Kraft: Tilda trotzt mit ungeheurer Disziplin und liebevoller Sorge um die jüngere Schwester den Verheerungen, die das Leben mit der Mutter mit sich bringt. Ida flüchtet nach dem Tod der Mutter auf die Insel Rügen und ringt der rauhen und stürmischen Ostsee buchstäblich ihr Überleben ab. Beide finden, beschädigt, aber nicht gebrochen, ihren jeweils eigenen Umgang mit den Schrecknissen ihrer Biographie. Lesenswert.

O‘Dell, Tawn. Wenn Engel brennen.
Ein „Country Noir“, „Rednecks“: Es ist keine kuschelige Gegend in den USA: Vom exzessiven Kohleabbau verwüstete Landstriche liegen brach, Geisterstädte rotten vor sich hin. Träume blühen und welken. Großartiger literarischer Erzählstil, eine grandiose Hauptfigur. Ein Roman, der unter die Haut geht.

Literarische Essays und Festreden – Autorinnen feiern Autorinnen
In wunderbar handlichem, ansprechendem Format – leicht eingesteckt und aus der Handtasche schnell herauszufischen – erscheinen seit 2014 als Festreden verkleidete literarische Essays, in denen „an Autorinnen erinnert wird, die die literarische Identität der Stadt Wien (mit)geprägt haben“ (vom 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart).
„Autorinnen feiern Autorinnen“ heißt die schöne Reihe, in der Schriftstellerinnen sehr anregende Wege zum Werk auch oft vergessener Autorinnen aufzeigen und gestalten. Die Lektüre dieser kleinen Büchlein ist ein großer Gewinn.
In unsrer Bibliothek gibt es davon entdecken: Sabine Scholl über Elfriede Gerstl, Bettina Balakà über Eugenie Schwarzwald, Marlen Schachinger über Betty Paoli, Marlene Streeruwitz über Bertha von Suttner, Julya Rabinowich über Mela Hartwig, Petra Ganglbauer über Jeannie Ebner.

Wirth, Maria. Hertha Firnberg und die Wissenschaftspolitik.
Hertha Firnberg (1909 – 1994) war eine der herausragendsten Politikerinnen nach 1945. Sie war die zweite Frau, die ein Ministerium leitete. Ihr politisches Engagement begann schon früh: mit 19 Jahre war sie bereits Bildungsreferentin und Obmann-Stellvertreterin der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Sie studierte Geschichte und promovierte 1935. Das Buch bietet einen guten Einblick in ihr Leben – beginnend mit ihrer Kindheit, ihr Leben im Nationalsozialismus bis zu ihrem Tod. Im Anhang findet sich ein Schriftenverzeichnis ihrer Publikationen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Strout, Elizabeth. Alles ist möglich.
Ein Roman aus mehreren Geschichten über Menschen, über Familienleben und darüber, wie unterschiedlich Lebensentwürfe verschiedener Charaktere bei ähnlichen Voraussetzungen sein können. Strouts Fähigkeit, Beobachtungen in Worte zu fassen, sind wie ein Sog, der aus vermeintlich Banalem anziehende Geschichten macht. Man möchte erst wieder aus diesen Geschichten auftauchen, sobald sich der Buchdeckel hinter der letzten Seite schließt.

Adichie, Chimamanda Ngozi. Americanah.
Adichie versteht es, ihre Leser*innen mit in ihre Welt zu ziehen und ihnen das Gefühl zu geben, diese Welt durch die Augen der Protagonistinnen zu sehen. In Americanah macht sie das in Form einer Liebesgeschichte, die traurig, schön und unbeschreiblich spannend ist.